Die Generation 80 plus wird sich bis 2050 verdoppeln, die Zahl der unter-20-Jährigen halbieren. Doch schon heute herrscht Pflegenotstand. Die Politik setzt auf ausländische Fachkräfte, ein Grundrecht auf Kurzzeitpflege und allgemeine Dienstpflicht. Experten verlangen eine völlig neue Sicht auf den Pflegebereich.
Der Pflegemangel ist im gesundheitspolitischen Berlin derzeit Thema Nr. 1. In Krankenhäusern werden Betten reduziert und geplante Operationen abgesagt, weil nicht genügend Pflegekräfte zur Verfügung stehen. Auch in der Altenpflege fehlt es bisher an einer auch nur halbwegs angemessenen Pflegeinfrastruktur. Insgesamt fehlen in Deutschland schon jetzt mindestens 50.000 qualifizierte Pflegekräfte in Kliniken, Heimen und ambulanten Diensten.
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Während Bundesgesundheitsminister Jens Spahn in Mexiko, Osteuropa und zuletzt im Kosovo um junge Pflegekräfte für Deutschland wirbt (die werden vor Ort auch dringend benötigt), schnürt die Berliner Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci ein Maßnahmenpaket, das neben der Einführung von Pflegepersonaluntergrenzen auch die Leiharbeit in der Pflege unterbinden soll.
Vor allem die Einführung von Pflegepersonaluntergrenzen sehen Praktiker skeptisch: „Ich bin gegen starre Grenzen. Denn die Menschen, die wir einstellen sollen, gibt es auf dem Arbeitsmarkt ja gar nicht“, sagt Matthias Scheller, Vorstandsvorsitzender des Hamburger Albertinen-Diakoniewerks. „Ich befürchte, dass das Ende der Abwärtsspirale noch nicht erreicht ist.“
Ausländische Fachkräfte oft unterfordert
Auch die von Jens Spahn forcierte Anwerbung ausländischer Pflege-Fachkräfte zur Festanstellung ist mit den Arbeitsbedingungen in Deutschlands Kliniken und Heimen nur schwer kompatibel. Denn Kranken- und Altenpfleger sind außerhalb Deutschlands durchweg höher qualifiziert und oft sogar akademisch gebildet. Waschen und Essen reichen gehört dort weniger zu ihren Aufgaben, da das in der Regel Familienangehörige oder Hilfskräfte erledigen. Hinzu kommt, dass die Neuankömmlinge nicht selten bis zu 18 Monaten auf die Anerkennung ihrer Berufsqualifikation warten müssen und – auch wegen mangelnder Sprachkenntnisse – derweil nur für einfachste Tätigkeiten eingesetzt werden.
Hingegen erleben Quereinsteiger und hochmotivierte Menschen aus Deutschland, die sich in fortgeschrittenem Alter umschulen lassen und in die Pflegebranche wechseln, ihren Einstieg häufig als Überforderung. Denn ihnen werden mit Blick auf ihre Lebenserfahrung oft Aufgaben zugewiesen, für die sie noch gar nicht ausgebildet worden sind. „Man setzt voraus, dass sie auch schwierige Aufgaben allein bewältigen“, heißt es hierzu in einer Studie der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung.
Struktur-Reform statt Abwärtsspirale
„Wir haben einen fantastischen Beruf, doch die Rahmenbedingungen sind nicht die, die wir uns wünschen“, zitierte das Deutsche Ärzteblatt bereits 2018 den gelernten Krankenpfleger und heutigen Pflegedirektor des Universitätsklinikums Münster Thomas van den Hooven. „Wir brauchen strukturelle Veränderungen und darin eine deutliche Stärkung der Pflege. Zusammen mit anderen Berufsgruppen müssen wir uns überlegen, wie wir die Aufgaben besser verteilen können.“ Bis heute ist da wenig geschehen.
Um die Arbeitsbedingungen in der Pflege attraktiver zu machen, bedarf es deshalb nicht nur einer besseren Entlohnung und besser geregelter Arbeitszeiten für deutlich aufzustockende Vollzeitstellen, sondern einer völlig neuen Sicht auf den Pflegebereich insgesamt. Zumal Union und SPD jetzt auch noch den generellen Rechtsanspruch auf einen Kurzzeitpflegeplatz einführen wollen. Das steht jedenfalls in einem gemeinsamen Antragsentwurf, über den die Süddeutsche Zeitung berichtet. Dabei geht es um den befristeten Aufenthalt im Pflegeheim, wenn zum Beispiel nach einer Operation kein Angehöriger da ist, um einen gebrechlichen oder bettlägerigen Menschen zu Hause zu versorgen.
Diese Kurzzeit- oder „Verhinderungspflege“ bringt eine längst überfällige Entlastung für Familien, die einen Angehörigen dauerhaft pflegen. Sie erfüllt damit die Vorgaben des Koalitionsvertrages, in dem die Regierungsparteien vereinbart hatten, pflegende Angehörige besser zu unterstützen. Dazu gehört auch eine Verbesserung der Tages- und Nachtbetreuung – also eine Stärkung und Unterstützung jener Einrichtungen, die kranke und alte Menschen auch für einige Stunden aufnehmen.
Noch ist die Finanzierung solcher Angebote nicht auskömmlich. Der Antrag nimmt aber auch die Pflegekassen und die Bundesländer in die Pflicht, für ausreichende Plätze und personelle Kapazitäten zu sorgen.
Notfallplan: Dienstpflicht und Roboter
Kein Wunder also, dass die von CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer angeregte allgemeine Dienstpflicht junger Menschen für den sozialen Bereich gerade bei den Bundesländern gut ankommt. Doch abgesehen davon, dass diese Initiative schon aus juristischer Sicht wenig praxistauglich ist, kommt auch seitens der Sozialverbände heftige Kritik an solchen Plänen.
Soziale Einrichtungen und die betreuten Menschen bräuchten „keine zwangszugeführten jungen Menschen, sondern echte, motivierte Freiwillige“, sagte Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, den Zeitungen des Redaktionsnetzwerkes Deutschland. Die aktuelle Debatte über eine Zwangsverpflichtung werde zudem „getragen von einem bemerkenswert antiquierten, repressiven und negativen Menschen- und Gesellschaftsbild“.
Während sich die Gesamtzahl der unter-20-Jährigen seit 1950 von damals 30 Prozent auf heute 17 Prozent der Gesamtbevölkerung verringert und damit fast halbiert hat, sind nach Angabe des Demografie-Portals des Bundes und der Länder schon heute in Deutschland 22 Millionen Menschen 60 Jahre und älter – das ist mehr als jeder Vierte. Und die Zahl der Hochbetagten im Alter von über 80 Jahren wird sich bis 2050 von derzeit 6 auf 13 Prozent mehr als verdoppeln. Kein Wunder also, dass angesichts des schon jetzt bestehenden akuten Fachkräftemangels an IT-gesteuerten Pflegeassistenzsystemen herumgebastelt wird. Zu den damit verbundenen Risiken und Nebenwirkungen gibt es aber bisher noch keine wissenschaftlich tragfähigen Erkenntnisse.
Mehr Wertschätzung für Pflegekräfte
Der Roboter als Dekubitus-Wundmanager auf der Intensivstation oder als Assistent bei der Körperpflege im Altenheim? Solche Plan- und Gedankenspiele sind kaum dazu angetan, zeitnah das zentrale Problem in Pflegebereich anzugehen: die mangelnde (gesellschaftliche) Anerkennung der Pflegekräfte. So berichtet die Neue Osnabrücker Zeitung über eine Umfrage des Deutschen Roten Kreuzes, nach der sich ein Viertel der Befragten nicht noch einmal für den Pflegeberuf entscheiden würden. Weitere 26 Prozent der Befragten möchten ihren Beruf nicht bis zur Rente ausüben. „Diese Zahlen sind alarmierend. Wir müssen alles tun, damit die Arbeitsbedingungen besser werden“, sagte dazu DRK-Präsidentin Gerda Hasselfeldt in der Zeitung.
1 Kommentare
Strukturreform und mehr Anerkennung des Pflegeberufes – dann wird ALLES gut?
Oder noch einfacher: … mal „eine völlig neue Sicht“
(auf deren Erläuterung man bis zur letzten Ziele des Artikels vergeblich wartet – das ist unredlich!)
In dieser recht umfassenden Defizitinventur sind kaum grundsätzlich zu beanstandende Bewertungen und Fakten enthalten. Was bei diesem Autor dann doch enttäuscht, ist das Fehlen einer der wesentlichsten Ursachen und Triebkräfte für die Zuspitzung der angesprochenen Defizite:
Die zunehmende Konzentration einer sich immer mehr industrialisierenden Pflege entzieht mit unglaublichen Gewinnspannen (noch über denen von VW und SAP) den öffentlichen Budgets zugunsten der zu einem Großteil außerhalb fiskalischer Erreichbarkeit platzierter Shareholder riesige Summen, die zugleich wegen des sich verschärfenden Wettbewerbes zunächst bei den Personalkosten erwirtschaftet werden. Auch eine bessere „WERTschätzung“ der Pflegenden wird den Controller bspw. von Alloheim (oder Korian und Oaktree) nicht zu betriebswirtschaftlichen Entscheidungen in anderer Richtung verleiten.
Dabei sind die 6 pflegenormmäßigen Minuten für den Stuhlgang doch sicher noch optimierungsfähig – Satire off -.
https://www.northdata.de/Alloheim+Senioren-Residenzen+GmbH,+D%C3%BCsseldorf/HRB+58893
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