Die „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ bleibt vorerst bestehen, auch wenn Freie Demokraten und AfD auf deren Aufhebung drängen. Bei der Risikoanalyse gehen die Meinungen der Experten weit auseinander.
Während die Corona-Infektionszahlen derzeit weltweit wieder signifikant ansteigen und sich in Spanien, Frankreich und anderen europäischen Nachbarländern die Intensivstationen mit SARS-CoV-2-Patienten füllen, beklagt der Virologe Alexander Kekulé in der in Bielefeld erscheinenden Neuen Westfälischen am 17. September eine fehlende staatliche Lenkung der Corona-Bekämpfung in Europa. So hätte er sich „eine stärkere europäische Führung und auch Steuerung des ganzen Covid-19-Problems von Anfang an gewünscht“. Es sei – so der Forscher – „wirklich sehr, sehr schade, dass von der Europäischen Kommission in Brüssel da praktisch nichts gekommen ist“.
KBV-Chef: Panikmodus ausschalten
Fast zeitgleich fordert Andreas Gassen, Vorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), für Deutschland eine Lockerung der Corona-Regeln im Alleingang. „Man kann den Panikmodus ausschalten“, sagte er dem Wirtschaftsmagazin Business Insider, und die Krankenhäuser hätten in Deutschland in erheblichem Umfang freie Intensivkapazitäten. Auch die Gefahr einer zweiten Infektionswelle sei derzeit nicht seriös zu bewerten: „Ich weiß nicht, ob es eine zweite Wellt oder eher mehrere kleinere ‚Dauerwellen‘ geben wird“, gab der Kassenärzte-Vertreter zu Protokoll.
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Ganz anders sieht das – ebenfalls in der NW – Gérard Krause, Leiter der Abteilung für Epidemiologie am international renommierten Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung. Der befürchtet durch die Kombination von Corona-Patienten und den in der kalten Jahreszeit zunehmenden „normalen“ Grippe- und Atemwegerkrankungen durchaus Engpässe für Praxen, Krankenhäuser und Intensivstationen. Kein Wunder also, dass auch und vor allem das RKI davor warnt, die vom Bundestag festgestellte epidemischen Lage von nach wie vor nationaler Tragweite voreilig aufzuheben.
Bundestag vergisst Ausstiegsklausel
Eine epidemische Lage von nationaler Tragweite hatte der Deutsche Bundestag erstmals am 25. März offiziell festgestellt und in der Folge mit den Änderungen im Infektionsschutzgesetz (IfSG) Rechtsverordnungen und Anordnungen erlassen, mit denen weitreichende Befugnisse für das Bundesgesundheitsministerium einhergingen. Dabei und danach hatte es der Bundestag allerdings versäumt, klare definierte Kriterien anzuerkennen und zu bestimmen, nach denen die epidemische Lage von nationaler Tragweite festgestellt werden kann und nach denen sie wieder aufgehoben werden muss.
Wann endet die epidemische Lage ?
Das genau ist jetzt Gegenstand eines aktuellen Antrags der AfD-Bundestags-Fraktion. Diese fordert die Einführung einer ständigen Epidemiekommission, die an „anhand objektiver, wissenschaftlich begründeter Kriterien“ festlegen soll, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, aufgrund derer der Bundestag von einer epidemischen Lage von nationaler Tragweiter auszugehen und zu beschließen habe. Diese Kommission müsse – so nachzulesen in hib Nr. 973/2020 – „politisch unabhängig sein und streng wissenschaftlich arbeiten“.
Interessenvertreter für Beibehaltung
Die FDP ist da bereits ungeduldig und möchte die Feststellung einer epidemischen Lage auf nationaler Ebene möglichst schnell aufheben, ohne dabei allerdings die bereits erlassenen Rechtsverordnungen und Anordnungen wieder außer Kraft zu setzten.
Anlässlich einer Anhörung des Gesundheitsausschusses des Bundestages am 9. Juli über einen Gesetzentwurf der FDP-Fraktion plädierten jedoch zahlreiche Verbandsvertreter in ihren Stellungnahmen für ein konsequentes Festhalten am Ausnahmezustand.
Die Gesellschaft für Virologie (GfV), die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) und vor allem die Bundesärztekammer (BÄK) warnen vor einer zu frühzeitigen Aufhebung der epidemischen Lage. Auch eine Rückkehr zur Normalsituation in den Kliniken sei noch nicht vertretbar, zumal die Zahl der täglich gemeldeten Corona-Neuinfektionen erneut steige und zudem bald die Grippesaison beginne.