Eltern kann das Sorgerecht teilweise entzogen werden, wenn sie ihren Kindern den Besuch einer staatlich anerkannten Schule beharrlich verweigern. Das hat der für Familiensachen zuständige Zivilsenat des Oberlandesgerichts (OLG) Celle entschieden.
Das Gericht ordnete in seiner Entscheidung einen teilweisen Sorgerechtsentzug an, da den betroffenen Kindern der Schulbesuch und Kontakte außerhalb der elterlichen Glaubensgemeinschaft vorenthalten wurden. Der Senat sah in dem vorliegenden Fall den Wissenserwerb und die Erlangung der erforderlichen Sozialkompetenz der Kinder gefährdet.
Die einer freikirchlichen Gemeinde zugehörigen Eltern von sieben Kindern sehen sich aufgrund ihres Glaubens verpflichtet, ihre Kinder von Einflüssen fernzuhalten, die den Geboten Gottes zuwiderlaufen. Die Mutter der Kinder beschult deshalb ihre beiden ältesten acht und sieben Jahre alten Kinder nach dem Konzept einer „Freien Christlichen Schule“ zu Hause.
Die Landesschulbehörde hatte 2019 einen Antrag auf Befreiung der Kinder von der Schulpflicht abgelehnt. Eine verwaltungsgerichtliche Entscheidung steht insoweit noch aus. Der Vater der Kinder wurde in insgesamt 15 Verfahren wegen Verstößen gegen die Schulpflicht zu Bußgeldern verurteilt. Das Amtsgericht Rotenburg (Wümme) hatte keine familiengerichtlichen Maßnahmen ergriffen, weil bei den Kindern aktuell noch keine Defizite beim Wissensstand oder den Sozialkompetenzen zu erkennen seien.
Gegen diese Entscheidung legte das Jugendamt Beschwerde beim OLG Celle ein und das mit Erfolg. Der für Familiensachen zuständige 21. Zivilrechtssenat kam zu einer anderen Entscheidung als das Amtsgericht. Er entzog den Eltern das Recht zur Regelung schulischer Angelegenheiten und bestellte das Jugendamt zum „Ergänzungspfleger“. Das Jugendamt trifft nun anstelle der Eltern die maßgeblichen Entscheidungen im Hinblick auf den Schulbesuch. Die Behörde kann damit auch, falls erforderlich, die Herausgabe der Kinder für den Schulbesuch erzwingen.
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Aus der Begründung des Gerichts
In Fällen, in denen das Wohl eines Kindes gefährdet ist und die Eltern nicht gewillt oder in der Lage sind, diese Gefahr abzuwenden, hat das Familiengericht nach § 1666 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Der Familiensenat hat hier eine akute Gefährdung des Wohls der beiden ältesten Kinder gesehen.
Zum einen gelinge es den Eltern nicht, die Kinder mit ausreichendem Wissen auszustatten und sie damit auf spätere schulische Prüfungen sowie auf eine Berufsausbildung vorzubereiten. Die Eltern konnten schon das Konzept der von ihnen durchgeführten Beschulung nicht nachvollziehbar beschreiben. Darüber hinaus unterrichtet die Mutter, die über einen erweiterten Realschulabschluss verfügt, die Kinder nur wenige Stunden am Tag und dies überwiegend auch neben der Betreuung der weiteren fünf Geschwister. Obwohl sie von einer „Freien Christlichen Schule“ eine gewisse Unterstützung erhält, wären die Kinder auf diesem Weg nach Auffassung des Senats später mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht in der Lage, einen staatlich anerkannten Schulabschluss zu erwerben.
Zum anderen könnten die Kinder so auch keine sozialen Kompetenzen erwerben, die es ihnen ermöglichten, sich mit andersgläubigen Menschen auseinanderzusetzen und sich in einer Umgebung durchzusetzen und zu integrieren, in der die Mehrheit der Menschen nicht entsprechend den Glaubensvorstellungen der Familie leben. Die Kinder wachsen ohne jeden Kontakt mit gleichaltrigen Kindern außerhalb ihrer Gemeinde auf. Sie haben keinen Zugang zu Computern oder zum Fernsehen und können damit auch nicht indirekt am sozialen Leben außerhalb der Gemeinde teilnehmen.
Der Senat hat bei seiner Entscheidung berücksichtigt, dass es aufgrund der durch Artikel 4 des Grundgesetzes (GG) verbürgten Glaubensfreiheit und des in Artikel 6 GG gewährleisteten Erziehungsrechts die Aufgabe und das Recht der Eltern ist, ihren Kindern Überzeugungen in Glaubens- und Weltanschauungsfragen zu vermitteln und nicht geteilte Ansichten von ihnen fernzuhalten. Dennoch sei die getroffene Entscheidung zum Schutz der Kinder erforderlich und verhältnismäßig. Zwar werden die Kinder bei einem Schulbesuch unter anderem mit der Evolutionstheorie, der Sexualkunde und der Gleichberechtigung von Mann und Frau konfrontiert, was die Eltern hier im Hinblick auf ihre Glaubensüberzeugungen verhindern wollen. Allein durch die Behandlung dieser Unterrichtsstoffe sind die Eltern aber nicht daran gehindert, ihre Kinder in Glaubensfragen nach eigenen Vorstellungen zu erziehen.
Beschluss vom 2. Juni 2021
OLG Celle Az.: 21 UF 205/20
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PM OLG Celle vom 25.06.2021