„Dieses Urteil betritt Neuland“, sagte der Sprecher des Landessozialgerichts (LSG) Berlin-Brandenburg. Bisher gilt: ohne Aufenthaltsrecht kein Anspruch auf Sozialhilfe. Die jetzige Entscheidung des 15. Senats könnte alles ändern, wenn sie vor dem Bundessozialgericht (BSG) Bestand hat.
Nach dem am Montag (2.10.) vom Berliner Sozialgericht gesprochenen Urteil können EU-Bürger ohne Aufenthaltsrecht Überbrückungsleistungen beim Sozialamt beantragen, solange die Ausländerbehörde noch keine Ausweisungsverfügung erlassen hat.
Hohe Zahl von Ausreispflichtigen
Nach den Zahlen des Gemeinsamen Zentrums zur Unterstützung der Rückkehr (ZUR) wuchs die Anzahl der vollziehbar ausreisepflichtigen Personen innerhalb eines Jahres von 234.603 auf 246.737 Betroffene. Das entspricht, nach einem aktuellen Spiegel-Bericht, einem Anstieg von 5,2 Prozent innerhalb eines Jahres.
Klägerin mit doppelter Staatsangehörigkeit
Laut Berliner Morgenpost hatte eine in Prag geborene Frau geklagt. Sie hat sowohl die syrische, wie auch die tschechische Staatsangehörigkeit und lebte lange in Syrien. Aufgrund der dortigen Kriegsereignisse war sie 2015 nach Deutschland eingereist. Hier stellte sie einen Antrag auf Sozialhilfe, der jedoch abgelehnt wurde. Dagegen klagte die Frau beim Sozialgericht in Potsdam. Dieses gab der Behörde Recht und entschied, die Antragstellerin habe keinen Anspruch auf reguläre Sozialhilfe, da sie kein europarechtliches Freizügigkeitsrecht oder sonstiges Aufenthaltsrecht habe.
LSG-Richter: EU-Bürger haben Mindestrechte
Als übergeordnete Instanz entschied nun das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg zugunsten der Klägerin und sprachen ihr Überbrückungsleistungen zu. Diese sind geringer als die reguläre Sozialhilfe und in der Regel zeitlich befristet (bis zur Ausreise). Das Überbrückungsgeld soll die Lebensunterhaltskosten sicherstellen.
Nach Meinung der LSG-Richter können EU-Bürger, anders als andere Ausländer, nicht gänzlich von Sozialleistungen ausgeschlossen werden. Das gelte auch, wenn Unionsbürger objektiv kein Freizügigkeitsrecht besäßen. Ihr Aufenthalt in Deutschland gelte als rechtmäßig, solange die Ausländerbehörde ihn nicht rechtswirksam beendet habe. Sie seien bis dahin ausländerrechtlich nicht zu einer Ausreise verpflichtet.
Überbrückungsleistungen statt Sozialhilfe
Der 15. Senat des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg entschied, dass Unionsbürger ohne materielles Aufenthaltsrecht Anspruch auf Überbrückungsleistungen haben, solange die Ausländerbehörde gegen sie keine Ausweisungsverfügung erlassen hat, die mit einem Einreise- und Aufenthaltsverbot verbunden ist. Jetzt muß das Bundessozialgericht in Kassel bei seiner Revision entscheiden, ob die bestehende Rechtslage beibehalten wird, oder geändert werden muss.
Urteil: LSG Berlin-Brandenburg Az.: L 15 SO 181/18
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Quellen: dts, beck-aktuell