Die Strafjustiz soll von Bagatellfällen entlastet werden. Immer mehr Vorschläge kommen auf den Tisch, von der Herabstufung des Schwarzfahrens zur Ordnungswidrigkeit, über Geldstrafen bei kleineren Ladendiebstählen bis hin zur jetzigen Diskussion während des 56. Deutschen Verkehrsgerichtstages. Dort ging es in einer Arbeitsgruppe um das unerlaubte Entfernen vom Unfallort, auch Unfallflucht genannt. Darüber sprach ich mit Rechtsanwalt Rudolf Esders, der in Essen langjährig als Strafrichter tätig war.
R.B.: Herr Esders, man kennt das ja, der Beifahrer reißt die Tür auf und verursacht einen marginalen Lackschaden am Nachbarfahrzeug. Passiert jeden Tag wohl unzählige Male. Der Lackschaden wird einfach ignoriert. Die Verursacher gehen oder fahren einfach weg, ohne sich weiter darum zu kümmern. Wo beginnt eigentlich die Fahrerflucht?
Kratzer an Autotür kann belanglos sein
RA Esders: Ein „geringfügiger Schaden“ ist noch kein „belangloser Schaden“. Nur bei Belanglosigkeit dann kann man nicht von einem „Unfall“ sprechen. Sachschäden werden als belanglos angesehen, wenn Ersatzansprüche üblicherweise nicht gestellt werden. Die Wertgrenze liegt derzeit etwa bei 25 Euro. Ein „Kratzer“ im Lack einer Autotür oder an einer Stoßstange kann vielleicht ohne Mühe auspoliert werden. Dann kann er belanglos sein. Ist der Lack aber tiefer aufgeschürft, kann die Reparatur ohne weiteres bis zu 1000 Euro kosten.
R.B.: Der ADAC glaubt, bei einer Entkriminalisierung von Bagatellschäden würden Unfallverursacher die Schäden häufiger nachträglich melden, da die Angst vor Strafe sie bisher davon abhält. Glauben Sie das auch?
RA Esders: Ich teile nicht die optimistische Meinung des ADAC, Schäden würden nachträglich gemeldet, wenn man eine Bestrafung nicht fürchten muß. Das mag dann sein, wenn man durch den Unfall aufgeregt einer spontanen Eingebung folgt und den Unfallort verläßt. Schon jetzt trägt § 142 Abs. 4 StGB dem Rechnung. Wird die Beteiligung an dem Unfall innerhalb von 24 Stunden offenbart, mildert das Gericht die Strafe oder sieht ganz von ihr ab, wenn nur unbedeutender Sachschaden (derzeit nicht mehr als 1300 Euro) außerhalb des fließenden Verkehrs entstanden ist, etwa beim Einparken.
Unfallflucht soll oft Fehlverhalten verdecken
Aber in vielen Fällen ist man gar nicht so aufgeregt. Man will verdecken, gefahren zu sein, etwa weil man ohne Fahrerlaubnis gefahren war oder getrunken hatte oder den Verlust des Schadensfreiheitsrabattes fürchtet.
R.B.: Ist der Tatbestand des unerlaubten Entfernens vom Unfallort bei Blechschäden noch zeitgemäß? Reicht es nicht aus, bei kleineren Blech- und Lackschäden ein Foto zu machen und den Schaden per Handy an die Versicherung zu melden?
RA Esders: Die Pflicht, am Unfallort zu warten, dient nicht nur der Ermittlung der Schadenshöhe. Die durch den Unfall entstandenen zivilrechtlichen Ansprüche des Geschädigten sollen gesichert und Schutz vor unberechtigten Ansprüchen gewährleistet werden. Nicht zuletzt die Haftpflichtversicherungen, die am Ende für den Schaden eintreten müssen, wollen wissen, ob und in welchem Umfang sie in Anspruch genommen werden können. Dafür reicht es gewöhnlich nicht aus, von einem vermeintlich kleinen Schaden ein Foto zu machen und zu erklären, man sei der Verursacher.
R.B.: Herr Esders, einen Fall habe ich selbst erlebt. Ein schon älterer Autofahrer parkte neben mir ein. Kurze Zeit später bog ein weiteres Auto auf den Parkplatz ein und dessen Fahrer stellte den älteren Herren zur Rede. Der war beim Ausparken auf dem vorherigen Parkplatz gegen dessen Auto gestoßen, aber einfach weggefahren. Er hatte den Kontakt der Fahrzeuge einfach nicht mitbekommen und war sich keiner Schuld bewußt. Setzt der Tatbestand der Fahrerflucht nicht eine bewußte Entscheidung voraus?
„Nichts gemerkt“ kann unangenehme Folgen haben
RA Esders: Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort, wie die „Fahrerflucht“ vom Gesetzgeber genannt wird, setzt voraus, daß der Fahrer den Unfall bemerkt hat. Er kann ihn gehört oder gefühlt haben oder beides.
Aber Vorsicht! Behauptet ein Beteiligter, er habe den Unfall nicht gehört, wird er womöglich zum Ohrenarzt geschickt und muß künftig beim Fahren ein Hörgerät tragen. Bei älteren Fahrern wird dann auch schnell die Fahrtüchtigkeit angezweifelt. Die Straßenverkehrsämter ordnen dann vielleicht eine Untersuchung der Fahrtauglichkeit an.
R.B.: Herr Esders, ich danke Ihnen für die aufschlußreichen Antworten.
Das Gespräch führte JUDID-Chefredakteur Ralf Borowski mit
Rechtsanwalt Rudolf Esders, der viele Jahre in Essen als Strafrichter tätig war und jetzt in der
Essener Rechtsanwaltskanzlei Bahn, Lösche und Partner arbeitet.
Lesen Sie auch unseren Blickpunkt-Artikel: Reizthema Unfallflucht beim Verkehrsgerichtstag 2018