„Mit den Verfahrenszeiten können wir nicht zufrieden sein“, sagte Dr. Ricarda Brand, die Präsidentin des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW) in Münster, als sie den Jahresbericht für das Jahr 2019 vorstellte. Verantwortlich für den starken Anstieg sind die zahlreichen Asylverfahren.
Während die Anzahl der neuen Verfahren rückläufig ist und mit 52.903 Verfahren inzwischen wieder den Stand
von 2015 erreicht hat, erhöhte sich die Anzahl der noch offenen Verfahren seit
2015 um das Vierfache.
Es sind die Asylverfahren, die Sand ins Getriebe der Verwaltungsgerichte
werfen. Nachdem zuerst gleichgelagerte Fälle zügig abgearbeitet wurden, haben
die Richter jetzt immer mehr komplizierte Sachverhalte zu klären. Dadurch stieg
die Bearbeitungszeit im Asylbereich um bis zu 50 Prozent an.
Verwaltungsgerichte holen Rückstand auf
Beim Oberverwaltungsgericht in Münster kommt das Problem steigender Bearbeitungszeiten „naturgemäß“ verzögert an. Aber auch für die höhere Instanz der Verwaltungsgerichtsbarkeit gilt: „Die Asylverfahren bestimmen bei uns das Tempo“, so OVG-Präsidentin Brand bei der Präsentation des Jahresberichtes für das Jahr 2019.
Brand hofft, dass der Verfahrenstau in drei Jahren abgearbeitet ist. Das gelte allerdings nur bei gleich bleibendem Eingang neuer Verfahren, schränkt die OVG-Chefin ein. Mit der personellen Situation ist sie im Augenblick zufrieden und sagt: „Gerichte können nur bis zu einem bestimmten Anteil Proberichter aufnehmen“.
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Pilotprojekt für kürzere Bearbeitungszeiten
Mit einem Pilotprojekt versucht die erfahrene Juristin die
zu langen Bearbeitungszeiten in den Griff zu bekommen. Jeweils zwei
wissenschaftliche Mitarbeiter verstärken zwei „Versuchssenate“. Erste
Erfahrungen stimmen Brand optimistisch, aber „genaue Zahlen liegen noch nicht
vor“.
Bei der Qualität der juristischen Arbeit will die Präsidentin, trotz hoher Bearbeitungszeiten,
keine Abstriche machen. Für Ricarda Brand ist eine hohe Qualitätsanforderung
bei der Rechtsprechung ein Garant für den Rechtsfrieden. Sie möchte „verständlich
machen, warum man so entschieden hat.“
Zankapfel Versammlungsrecht
Angesichts der Neueingänge beim Asylrecht (3.349 Verfahren) im Jahr 2019, führen die anderen Sachgebiete am Oberverwaltungsgericht in Münster fast ein Schattendasein. Zusammen kommen diese 10 Arbeitsbereiche auf 3.839 Verfahren. Während die Asylverfahren eher unauffällig abgearbeitet werden, geraten andere Tätigkeitsfelder der Verwaltungsgerichtsbarkeit, wie das Versammlungsrecht, kontroverser in den Fokus der Öffentlichkeit. Hier trafen die OVG-Richter aus Münster im vergangenen Jahr zwei unterschiedliche Entscheidungen bei anscheinend gleichartigen Fällen. Das stieß auf Unverständnis.
Am Rand der Meinungsfreiheit
Bei beiden Fällen handelte es sich um Plakate, die während einer Versammlung von politisch rechtsextremen Gruppierungen mitgeführt werden sollten und die sich gegen Menschen jüdischen Glaubens richteten. Während der erste Fall unstrittig war, da er gegen geltendes Recht verstieß, konnte das andere Plakat nicht verboten werden. Den Grund nannte Sebastian Beimesche, der Vizepräsident des OVG NRW.: „Das Gericht hat im Zweifel die für den Betreffenden günstigere Variante zu berücksichtigen.“ In diesem Fall werteten die Richter die betreffende Äußerung als „überzogene Kritik“ am Staat Israel, die noch von der grundgesetzlich garantierten Meinungsfreiheit gedeckt sei.
Auf die Diskrepanz bei der Bewertung der beiden Verfahren angesprochen sagte Beimesche, der auch der Vorsitzender Richter des 15. Senats am OVG NRW ist: „Die gesetzlichen Regularien sind ausreichend. Nur die Bewertungen gehen teilweise weit auseinander.“ Es gelte Überlegungen anzustellen, um diese Schere zu schließen. Auch zum Thema „Kurzzeitblockaden“ bei Veranstaltungen hat der erfahrene Verwaltungsrichter eine klare Meinung: „Kurzzeitblockaden sind hinzunehmen“. Sie gelten immer noch als friedliche Demonstration.
Die Präsidentin des Oberverwaltungsgerichts wies zum Abschluß auf einen wichtigen Punkt hin, der gerne übersehen wird. Sie sagte: „Wir verbieten oder erlauben keine Veranstaltungen. Wir prüfen nur die Rechtmäßigkeit“.