„Hände hoch ÜBERFALL !“ – das war gestern. Der Räuber 4.0 des digitalen Zeitalters füllt ein Formular aus und beantragt bei der Familienkasse Kindergeld für seine 5 (nicht existierenden) Kinder. Das Risiko erwischt zu werden ist gering, die Beute hoch, das mögliche Strafmaß überschaubar.
Mit einer großangelegten Kontrolle haben die NRW-Sozialbehörden Anfang des Jahres einen systematischen Mißbrauch von Sozialleistungen aufgedeckt. Die Überprüfungsaktion richtete sich gegen Unternehmen sowie Zuwanderer aus Bulgarien und Rumänien. Schwerpunkt der Kontrollen waren fingierte Arbeitsverträge und unberechtigter Hartz IV-Bezug. Dabei gingen den Kontrolleuren auch sieben Kindergeldbetrüger ins Netz.
Dreistelliger Millionen-Schaden
Nach Recherchen der „Welt am Sonntag“ betrügen organisierte Banden die Familienkassen, indem sie sich Kindergeld für Kinder auszahlen lassen, die entweder nicht existieren oder die nicht in Deutschland leben. Die Zeitung schätzt den Schaden für die öffentlichen Haushalte pro Jahr auf einen dreistelligen Millionen-Betrag.
Der bundesweite Leiter der für das Kindergeld zuständigen Familienkasse, Karsten Bunk, beobachtet den organisierten Kindergeldbetrug schon seit ein bis zwei Jahren. Seiner Erfahrung nach stehen hinter dem Betrug häufig professionelle Banden, die gezielt EU-Bürger aus Südosteuropa anwerben und ihnen ein besseres Leben in Deutschland versprechen. Hier angekommen, werden sie von den Betrügern mit gefälschten Unterlagen ausstatten. Das sind entweder Geburtsurkunden für nicht existente Kinder oder Schulbescheinigungen für Kinder, die in Wahrheit im Heimatland leben. Das ergaunerte Kindergeld geht dann größtenteils an die kriminellen Drahtzieher im Hintergrund.
Freizügigkeit ist Ursache des Problems
Der Leiter der Familienkasse sieht den Grund, warum diese Form der organisierten Kriminalität sich derzeit so stark ausbreitet, in der vollen Freizügigkeit, die mit der EU-Osterweiterung verbunden ist. Seit diesem Zeitpunkt haben deutlich mehr EU-Bürger in Deutschland Anspruch auf Sozialleistungen.
Dunkelziffer ist erheblich
Das Kindergeld ist einer der größten Ausgabenposten der öffentlichen Hand. Pro Jahr zahlt die Familienkasse, die der Bundesagentur für Arbeit unterstellt ist, 32 Milliarden Euro an Kindergeld aus, für 15 Millionen Kinder. Darunter sind 127.000 rumänische und 78.000 bulgarische Kinder.
Eine Stichprobe in Düsseldorf und Wuppertal ergab, dass bei 40 von 100 Kindergeldberechtigten, die drei oder mehr Kinder angegeben hatten, diese Angaben falsch waren. Dies lasse allerdings nicht darauf schließen, dass bei rumänischen oder bulgarischen Familien der Betrugsanteil generell 40 Prozent betrage, sagt Karsten Bunk und weist darauf hin, daß die organisierten Netzwerke auch aus anderen Herkunftsländern kommen.
Um den Betrug besser verfolgen zu können, fordert der Leiter der Familienkassen von der Politik, eine bessere Vernetzung der Kassen mit Ordnungsämtern und Polizei zu gestatten.
Pilotprojekt in Nordrhein-Westfalen
Bei der Familienkasse Nordrhein-Westfalen West versucht man jetzt mit einem Pilotprojekt der neuen Betrugsart Herr zu werden. Ein Weg der Bekämpfung ist die Teilnahme von Außendienstmitarbeitern der Kindergeldkasse an Razzien der Sozialbehörden. Dabei werden auch Familien überprüft, die in sogenannten Schrottimmobilien untergebracht sind. Erste Erfolge haben sich bereits eingestellt. Wenn das Projekt erfolgreich ist, könnten die anderen bundesweit vorhandenen 14 Standorte der Familienkasse von diesen Erfahrungen profitieren.
Bundesregierung ohne Überblick
Das die Betrugsfälle beim Kindergeld zunehmen, hat sich auch bis Berlin rumgesprochen. „In den letzten Jahren war im Rahmen von Überprüfungen und Stichproben ein Anstieg des Missbrauchs in organisierter Form zu beobachten“, schreibt die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der AfD-Fraktion Anfang Juli. Diese hatten sich nach dem Missbrauch von Kindergeldzahlungen an EU-Ausländer erkundigt.
Es seien verschiedene Maßnahmen seitens der Behörden ergriffen worden, versicherte die Bundesregierung in ihrer Antwort. So sei der Informationsaustausch zwischen Meldebehörden und Familienkassen verbessert worden. Wie hoch der Schaden für die öffentlichen Haushalte durch den Kindergeld-Betrug ist, konnte die Regierung jedoch nicht angeben.
Gute Aussichten für Kindergeldbetrüger
Mit dem jetzt vorliegenden Referentenentwurf zum Familienentlastungsgesetz stellt das Bundesministerium der Finanzen seine Pläne zur Anhebung des Kindergeldes und des Kinderfreibetrags für 2019 vor. So soll das Kindergeld zukünftig monatlich für das erste und zweite Kind je 204 Euro, für das dritte Kind 210 Euro und für das vierte und jedes weitere Kind je 235 Euro betragen. Die Anhebung des Kindergeldes um 10 Euro je Monat und Kind soll ab Juli 2019 gelten. Eine weitere Erhöhung um 15 Euro monatlich für jedes Kind ist für das Jahr 2021 geplant.
R.B. u.a. mit Material der dts-Nachrichtenagentur
2 Kommentare
Wohnsitz in Deutschland ist allerdings keine der Voraussetzungen für einen Kindergeldbezug. Da Kindergeld keine Sozialleistung ist, sondern aus steuerlicher Logik gezahlt wird, kommt es auf ein inländisches, sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis an. Es wäre sinnvoll, in einem Artikel über Kindergeldbetrug (den es ja gibt) den Hintergrund eines rechtmäßigen Kindergeldbezuges zu erläutern.
Um den Kommentar von Arne Reyher zu ergänzen:
An den VOen (EG) Nr. 883/2004 und (EG) Nr. 987/2009, welche das Sozial(versicherungs)recht einschließlich des Familienbeihilfenrechts koordinieren, liegt es jedenfalls nicht, dass die deutschen Familienkassen offenbar zigtausendfach auf professionelle Betrüger hereinfallen.
Ganz im Gegenteil: Das Europarecht bietet ausgezeichnete Instrumente gegen den Betrug, es schreibt nämlich vor, dass die beteiligten Träger grenzüberschreitend ihre Informationen austauschen, und dabei freilich die dem jeweils anderen Träger vom Antragsteller vorgelegten Materialien zu prüfen.
In solchen Ländern, die sich an das Europarecht halten, d.h. den Informationsaustausch mit den Trägern der anderen Vertragsstaaten konsequent durchführen, fliegen gefälschte Geburtsurkunden usw. sofort auf.
Problem der Deutschen ist aber: ihre MitarbeiterInnen in den Familienkassen halten sich *nicht* ans Europarecht, sie kommunizieren *nicht* mit den Trägern der anderen Vertragsstaaten, sondern: sie verlassen sich auf die Papiere, die ihnen von den Antragstellern bzw. deren betrügerischen Mittelsleuten vorgelegt werden, und wenn es noch so plumpe Fälschungen sind! — Tja, zuerst dem Personal in den Familienkassen offenbar verbieten, korrekte grenzüberschreitende Sachverhaltsermittlung durchzuführen, denn die ist ja zeitintensiv, und man benötigte dazu wirklich intelligentes Personal; dann aber sich vor die Presse stellen und große Krokodilstränen vergießen, dabei aber die zentrale Tatsache verschweigen, dass man es den *schlimmen Ausländerbanden* in Deutschland halt wirklich sehr sehr einfach macht, Herr FamKa-Präsident Karsten B.?!
Alle in Europa, die mit der Materie vertraut sind, verachten Sie für Ihre Schäbigkeit, Herr FamKa-Präsident Karsten B.!
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