Uneinsichtig zeigte sich die Krankenkasse, als ein blinder MS-Patient einen elektrischen Rollstuhl beantragte. Als Blinder sei er ja nicht verkehrstauglich argumentierte die Kasse und lehnte den Antrag ab. Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen (LSG) sah die Sache jedoch anders.
Der betroffene 57-jährige Mann leidet seit vielen Jahren unter Multipler-Sklerose (MS) und ist auch noch blind. Das macht sein Leben nicht einfacher. Auf Grund seiner Erkrankung konnte er immer schlechter gehen und mußte daher einen „Greifreifen-Rollstuhl“ nutzen, um weiter mobil zu sein. Im Jahr 2018 verschlimmerte sich seine Krankheit und ein Arm wurde kraftlos. Die Nutzung des bisherigen Rollstuhls fiel ihm immer schwerer. Daher beantragte der Mann bei seiner Krankenkasse einen Elektrorollstuhl.
Nicht verkehrstauglich
Zum seinem Erstaunen lehnte die Krankenkasse den Antrag ab. Die Begründung: Der Antragsteller sei blind und damit nicht verkehrstauglich. Auch bei zulassungsfreien Kraftfahrzeugen wie einem Elektrorollstuhl führe Blindheit generell zu einer fehlenden Eignung. Denn eine Eigen- und Fremdgefährdung lasse sich bei Blinden nicht ausschließen. Dafür könne die Kasse nicht haften.
E-Rollstuhl plus Langstock
Der blinde MS-Patient verwies auf seine langjährigen Erfahrungen mit dem Langstock. Damit habe er sich immer gut orientieren können und dies auch schon erfolgreich mit einem Elektrorollstuhl trainiert. Einen Handrollstuhl könne er nicht mehr bedienen und ohne fremde Hilfe sei es ihm sonst zukünftig unmöglich, das Haus zu verlassen. Deshalb klagte er gegen die Entscheidung der Krankenkasse und das letztendlich mit Erfolg. Das Landessozialgericht entschied, dass die Versorgung eines Multiple-Sklerose (MS)-Patienten mit einem Elektrorollstuhl nicht wegen Blindheit verweigert werden darf.
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Aus der Begründung des Gerichts
Es sei inakzeptabel, den Mann auf die behelfsmäßige Fortbewegung mit dem bisherigen Rollstuhl zu verweisen. Sehbeeinträchtigungen seien kein genereller Grund, eine Verkehrstauglichkeit bei Elektrorollstühlen abzulehnen. Es seien auch keine individuellen Gründe bei dem Mann gegeben, aus denen er mit einem Elektrorollstuhl nicht umgehen könne. Dies habe ein gerichtlicher Sachverständiger festgestellt. Etwaige Restgefährdungen seien dem Bereich der Eigenverantwortung zuzuordnen und in Kauf zu nehmen. Dabei hat das Gericht dem neuen, dynamischen Behindertenbegriff eine zentrale Bedeutung beigemessen. Es sei die Aufgabe des Hilfsmittelrechts, dem Behinderten ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen und nicht, ihn von sämtlichen Lebensgefahren fernzuhalten und ihn damit einer weitgehenden Unmündigkeit anheimfallen zu lassen.
Beschluss vom 4. Oktober 2021
Az.: L 16 KR 423/20 — Vorinstanz: SG Lüneburg
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Quelle: LSG Niedersachsen-Bremen