Big Data ist das Schmiermittel für datengetriebene Geschäftsmodelle und schafft ständig neue Fakten, auf die der Gesetzgeber gar nicht oder erst im Nachhinein reagiert. Das eigentlich illegale Rezept-Shoppen im Netz ist da nur eins von vielen Beispielen.
Wenn sich Patienten online ohne Arztbesuch verschreibungspflichtige Medikamente selbst „verordnen“ und bestellen können, so ist das nicht legal, aber auch nicht verboten. Denn im Internet kapituliert der Gesetzgeber nicht selten vor den Fakten. Mit Risiken und Nebenwirkungen, zu denen der niedergelassene Arzt oder der Apotheker gar nicht erst gefragt wird.
Arzt war gestern, online ist heute, lautet deshalb die Devise vieler Patienten. Auf Portalen wie „zavamed“,“ fernarzt“ oder „medzino“ reicht es aus, einen Ferndiagnose-Bogen nach eigenem Gutdünken und ohne Belege auszufüllen und dann einfach an einen der auf der Seite aufgeführten Online-Ärzte zu mailen. Und schon erhalten sie nach ein oder zwei Tagen per Post das gewünschte, verschreibungspflichtige Medikament – und zwar aus dem Ausland.
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So einfach lässt sich die, in Deutschland bewährte, Verschreibungspflicht umgehen. Diese soll, bei Medikamenten mit gesundheits- und lebensbedrohenden Nebenwirkungen, die Patienten schützen und einen Medikamentenmissbrauch verhindern. Das Problem: Ausländische Ärzte, die in einem Land praktizieren, das keine Beschränkungen für Fernbehandlungen kennt (z.B. Großbritannien) , können ihre Patienten grenzüberschreitend und im Netz „behandeln“.
Mit ein paar Klicks zur Pille
„Eine ausschließliche Beratung oder Behandlung über Kommunikationsmedien ist im Einzelfall erlaubt, wenn dies ärztlich vertretbar ist und die erforderliche ärztliche Sorgfalt insbesondere durch die Art und Weise der Befunderhebung, Beratung, Behandlung sowie Dokumentation gewahrt wird“ , lautet zwar Paragraf 7 in den diesbezüglichen Hinweisen der Bundesärztekammer aus dem Jahre 2018.
Dass das nicht nur „im Einzelfall“, dafür aber ohne jegliche „ärztliche Sorgfalt“ geschieht, zeigt jetzt ein Bericht der in Bielefeld erscheinenden Neuen Westfälischen: Um selbst zu testen, wie einfach es ist, per Online-Arzt-Portal eine verschreibungspflichtige Antibaby-Pille zu bestellen, füllte die Journalistin Anneke Quasdorf den Ferndiagnose-Bogen so aus, dass das Bild einer kerngesunden Patientin ohne Risikofaktoren entstand. Diesen Bogen schickte sie mit einem Klick an eine ihr völlig unbekannte, vom Online-Portal „Zavamed“ zugeteilte, Ärztin.
„Wäre ich eine übergewichtige, rauchende Bluthochdruckpatientin mit relevanten Vorerkrankungen, niemand bei Zavamed – genauer: die mir zugeteilte Ärztin – würde es je erfahren. Oder vielleicht doch, wenn ich Wochen später mit einer schweren Thrombose im Krankenhaus läge und Entschädigung für die Fehlentscheidung verlangen würde“, resümiert die Journalistin in ihrem Beitrag.
„Sofern sie noch am Leben wäre“, gibt dazu Rolf Englisch, Gynäkologe und Landesvorsitzender des Berufsverbandes der Frauenärzte in der Zeitung zu Protokoll. „Für die Erstellung eines solchen Präparats muss ich die Patientin sehen und persönlich untersuchen. Das ist eine Vollkatastrophe.“
Hoher Anteil von gefälschten Medikamenten
Neben den gesundheitsgefährdenden Risiken dieser gleichsam anonym verschriebenen Rezepte macht deutschen Ärzten (und Apothekern) noch ein weiterer Aspekt Sorgen: Nach Schätzungen der WHO sind mindestens 50 Prozent der im Internet gehandelten Medikamente Fälschungen oder Präparate mit bereits abgelaufenen Verfallsdaten (und entsprechend manipulierten Verpackungen bzw. Beipackzetteln), was weltweit zum Tod von jährlich etwa einer Million Menschen führt.
Spahn wartet auf EuGH-Entscheidung
Diese Zahlen und auch der Blick auf die im Netz nicht gewährleistete „Gleichpreisigkeit“ von Medikamenten halten Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) jedoch nicht davon ab, das Problem erst einmal auf die lange europäische Bank zu schieben. Er will zunächst eine Regelung durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH) abwarten. Das wurde auf einer Sitzung des Petitionsausschusses im Bundestag am 27. Januar diesen Jahres deutlich. Dabei ging es unter anderem auch um die Petition eines Pharmaziestudenten, der mit Blick auf die bei den Versendern nicht mehr gegebene Arzneimittel-Sicherheit und die zunehmende Schließung von Apotheken ein Verbot des Medikamenten-Versandhandels forderte.
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Gesundheitsminister sieht Probleme
Laut Koalitionsvertrag werde ein solches Verbot zwar „angestrebt“, sagte Spahn, der aber anmerkte, ein entsprechender Referentenentwurfs seines Vorgängers sei vom Kabinett abgelehnt worden. Der Grund waren Einwendungen aus dem Justizressort. Zudem stehe das ernstzunehmende Problem des Erstellens von Rezepten ausländischer Ärzte im Netz in keinem Zusammenhang mit dem Versandhandel. „Man sollte das eine Problem nicht mit dem anderen vermengen“, meint der Bundesgesundheitsminister.
Plattform-Wirtschaft braucht Regeln
Die alltägliche Praxis des Medikamentenhandels über die Online-Arzt-Portale wirft die grundsätzliche Frage auf, inwieweit und ob überhaupt die digitale Angebotsform von Waren und Dienstleistungen eine Freistellung von analog sonst verbindlichen Regelungen erlaubt. Zudem gibt es im Bereich der digitalen Wirtschaft Unternehmen mit erheblicher Macht und zunehmend kartellrechtlicher Relevanz. So ist auch Amazon – zuerst in den USA – in den Pharmaziemarkt eingestiegen und ist dabei, auch Europa medikamentös aufzumischen.
Höchste Zeit für ein schärferes digitales Wettbewerbsrecht. Dazu hat Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) jetzt einen Gesetzentwurf, das „GWB-Digitalisierungsgesetz“, auf den Weg gebracht. Der wird von Rupprecht Podszun, Direktor des Instituts für Kartellrecht der Heinrich-Heine –Universität Düsseldorf, mit Nachdruck begrüßt: Die Befugnisse, die das Bundeskartellamt in Bonn dadurch erhalten würde, seien „weltweit bislang ohne Vorbild“. Podszum sieht angesichts der marktübergreifenden Macht der Digitalkonzerne die drohende Gefahr von Machtmißbrauch und eine wachsende Problematik bei der gesetzlichen Regulierung.
2 Kommentare
Falsche Angaben, um ein Medikament zu bekommen, kann man auch bei einem Arzt. Ich kenne keinen Arzt der das überprüft, geschweigedenn bei gängigen Medikamenten vorher Untersuchungen macht. Jeder ist verantwortlich für seine Angaben und könnte, wenn er die Medikamente missbrauchen will, auch legale Medikamente missbrauchen. Wirklich „harte“ Medikamente bekommt man per Fernrezept ohnehin nicht.
Die Behauptung die Medikamente kämen aus dem Ausland ist falsch. Die Medikamente kommen von deutschen Partner Apotheken der online-Ärzten.
Aber letztendlich kann das mit den ausländischen oder gefälschten Medikamenten auch bei der Apotheke Vorort passieren, da Apotheker Medikamente aus dem Ausland problemlos einführen können.
Ich denke soetwas ist mal wieder ein Versuch Versandhändler kleinzuhalten und die Leute zu zwingen in der Apotheke vor Ort überteuerte Medikamente zu kaufen bzw. ihren Arzt aufzusuchen, der meistens nicht einmal den Fragebogen den man bei online-Ärzten ausfüllt abfragt.
Nein ich denke es zeigt einfach, wie im Internet unter europäischen Vorwand ganz simple Sicherheitstandards ausgeschaltet werden, damit Großkonzerne das große Geld mit Medikamenten verdienen können. Der Skandal ist, dass die Politik nicht handelt, aber der Lobbyismus des “großen Geldes” blüht halt, wenn DOC Morris und Konsorten z.B. Parteiveranstaltungen sponsern, oder nicht zuletzt ein verantwortlicher Gesundheitsminister früher mit Entscheidungsträgern solcher Konzern gemeinsame Firmen betrieb.
Die tatsächlichen Folgen sind, dass in Deutschland jährlich über 300 Apotheken schließen müssen. Und systematisch in einer wirklichen Vollkostenrechnung ist gesellschaftlich die Arneimittelversorgung per Versand immer teurer.
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