Ein über den Feldweg gespannter Stacheldraht wurde einem Mountainbiker zum Verhängnis. Der Radler erkannte das tückische Hindernis erst im letzten Moment und versuchte eine Vollbremsung, doch es war zu spät. Er stürzte kopfüber und blieb schwerverletzt liegen. Jetzt entschied der Bundesgerichtshof (BGH) zugunsten des, seit dem Unfall querschnittsgelähmten, Mountainbikers.
Der Radler befuhr im Jahr 2012 während einer Radtour in der Nähe von Hamburg einen unbefestigten Feldweg. Dort befand sich eine Absperrung aus zwei quer über den Weg gespannten Stacheldrähten. Daran war in Hüfthöhe ein Verbotsschild für Kraftfahrzeuge befestigt. An einem der beiden Holzpfosten konnten die Stacheldrähte gelöst werden, um die Absperrung zu öffnen. Die Sperre war, mit gemeindlicher Zustimmung, durch die damaligen Jagdpächter errichtet worden, die den Weg nutzten, um zu einem Hochsitz zu gelangen.
Sturz durch Stacheldraht
Als der Mountainbiker die Stacheldrähte bemerkte, führte er eine Vollbremsung durch. Die mißlang und er stürzte kopfüber in das Hindernis. Dort blieb er mit seiner Kleidung hängen und konnte sich nicht mehr bewegen. Durch den Sturz erlitt er einen Bruch des Halswirbels und als Folge eine komplette Querschnittslähmung. Er ist seit dem Unfall dauerhaft hochgradig pflegebedürftig und bedarf lebenslang einer Weiterbehandlung mit kranken-, physio- und ergotherapeutischen Maßnahmen.
500.000 Euro Schmerzensgeld
Der geschädigte Radfahrer fordert von der genehmigenden Gemeinde und den Jagdpächtern mindestens 500.000 Euro Schmerzensgeld und die Erstattung aller Unfallkosten. Dabei geht es auch um die zukünftigen, lebenslang erforderlichen Pflegekosten des vom Hals an querschnittgelähmten Radfahrers.
Da es sich bei dem Verunglückten um einen Angehörigen der Bundeswehr handelte, verlangt auch die Bundesrepublik Deutschland als Dienstherr des Soldaten von den Beklagten für entstandene Krankenkosten und Versorgungsbezüge noch einmal über 580.000 Euro. Nach Ansicht des verunglückten Radfahrers und seines Dienstherren, hätte die Gemeinde als Eigentümerin des Feldweges und die Jagdpächter ihre Verkehrssicherungspflichten verletzt, da das Hindernis erst aus einer Entfernung von höchstens acht Metern erkennbar gewesen sei.
Das Landgericht in Lübeck wies die Klage als unbegründet ab. Die Berufung beim zuständigen Oberlandesgericht in Schleswig war für den Kläger zwar erfolgreicher, aber mit einem „Mitverschuldensanteil“ von 75 % war der Kläger nicht einverstanden. Die OLG-Richter waren der Meinung, der Mountainbiker sei zu schnell unterwegs gewesen und trage deshalb eine Mitschuld. Jetzt mußte der Bundesgerichtshof entscheiden.
Aus der Entscheidung des Gerichts
Der unter anderem für das Amtshaftungsrecht zuständige III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat heute entschieden, dass ein Radfahrer grundsätzlich nicht mit einem quer über einen Feldweg gespannten, ungekennzeichneten Stacheldraht rechnen muss und es deshalb kein Mitverschulden an einem Unfall darstellt, wenn er seine Fahrgeschwindigkeit auf ein solches Hindernis nicht einstellt und deshalb zu spät davor bremst.
Mit Recht hatte das Berufungsgericht eine schuldhafte Verkehrssicherungspflichtverletzung durch die Beklagten bejaht. Ein quer über einen für die Nutzung durch Radfahrer zugelassenen Weg gespannter, nicht auffällig gekennzeichneter Stacheldraht ist im wörtlichen wie auch im rechtlichen Sinne verkehrswidrig. Ein solches Hindernis ist angesichts seiner schweren Erkennbarkeit und der daraus sowie aus seiner Beschaffenheit folgenden Gefährlichkeit völlig ungewöhnlich und objektiv geradezu als tückisch anzusehen, so dass ein Fahrradfahrer hiermit nicht rechnen muss.
Für diesen verkehrspflichtwidrigen Zustand haftet die Gemeinde als Trägerin der Straßenbaulast. Die Haftung der Jagdpächter folgt daraus, dass die Absperrung von einem früheren Jagdpächter in dieser Eigenschaft errichtet worden war, um eine Ruhezone für das Wild zu schaffen. Die jetzigen Jagdpächter haben mit der Übernahme der Jagdpacht das Recht erworben, dieses Drahthindernis, das ihnen bekannt war, weiterhin zu benutzen, und damit aber auch die Verpflichtung, für die Verkehrssicherheit zu sorgen.
Der Kläger hat allerdings entgegen der Ansicht des Oberlandesgerichts nicht gegen das Sichtfahrgebot verstoßen, so dass ihm insoweit kein Mitverschulden an dem Unfall anzulasten ist. Dieses Gebot verlangt, dass der Fahrer vor einem Hindernis, das sich innerhalb der übersehbaren Strecke auf der Straße befindet, anhalten kann. Es gebietet aber nicht, dass der Fahrer seine Geschwindigkeit auf solche Objekte einrichtet, die sich zwar bereits im Sichtbereich befinden, die jedoch – bei an sich übersichtlicher Lage – aus größerer Entfernung noch nicht zu erkennen sind. Dies betrifft etwa Hindernisse, die wegen ihrer besonderen Beschaffenheit ungewöhnlich schwer erkennbar sind oder deren Erkennbarkeit in atypischer Weise besonders erschwert ist und auf die nichts hindeutet. Anderenfalls dürfte sich der Fahrer stets nur mit minimalem Tempo bewegen, um noch rechtzeitig anhalten zu können. Um ein solches Hindernis handelte es sich im vorliegenden Fall. Daran änderte auch das an den Drähten angebrachte, mit nach unten auf den Boden gerichteten Holzlatten versehene Verkehrsschild nichts. Im Gegenteil erweckte es den Eindruck, der Weg sei für Fahrradfahrer frei passierbar.
Auch die dem Kläger vom Berufungsgericht angelastete fehlerhafte Reaktion auf das Hindernis, die zum Überschlag des Fahrrads führte, begründet nicht den Vorwurf eines Mitverschuldens. Die falsche Reaktion eines Verkehrsteilnehmers stellt dann keinen vorwerfbaren Obliegenheitsverstoß dar, wenn dieser in einer ohne sein Verschulden eingetretenen, für ihn nicht vorhersehbaren Gefahrenlage keine Zeit zu ruhiger Überlegung hat und deshalb nicht das Richtige und Sachgerechte unternimmt, um den Unfall zu verhüten, sondern aus verständlichem Erschrecken objektiv falsch reagiert.
Als Umstand, der ein anspruchsminderndes Mitverschulden des Klägers gemäß § 254 Abs. 1 BGB begründen könnte, bleibt lediglich, dass er auf dem unbefestigten und unebenen Feldweg statt der „normalen“ Fahrradpedale sogenannte Klickpedale nutzte. Dies könnte allerdings einen Mitverschuldensvorwurf von allenfalls 25 % rechtfertigen. Hierzu wird das Berufungsgericht noch weitere Feststellungen zu treffen haben. Auf die Revisionen des Klägers und seines Dienstherrn sind die Verfahren daher an das Oberlandesgericht zurückverwiesen worden.
Auf die Revision der Beklagten ist zudem das Urteil in dem von dem Dienstherrn geführten Verfahren aufgehoben worden, weil das Berufungsgericht bisher keine hinreichenden Feststellungen zum Bestehen eines sogenannten Quotenvorrechts gemäß § 76 Satz 3 des Bundesbeamtengesetzes in Verbindung mit § 30 Abs. 3 Soldatengesetz getroffen hat.
Der BGH hob die Urteile des OLG Schleswig auf und verwies das Verfahren dorthin zurück.
Urteile vom 23. April 2020, Az.: III ZR 250/17 und III ZR 251/17
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Quelle: PM BGH vom 23.4.2020