Das Oberlandesgericht (OLG) in Celle mußte entscheiden, ob ein angefahrenes elfjähriges Kind beim Überqueren einer Straße eine Mitschuld an dem Unfall trägt. Die Vorinstanz hatte dies bejaht und dem Kind eine Mitschuld von 25 Prozent an dem Unfall zugerechnet.
Eine 11-jährige Schülerin überquerte, als letztes von vier Kindern eine Strasse in der Nähe ihrer Schule. Es war kurz vor acht Uhr morgens und es war um diese Zeit im Dezember noch dunkel. Ein vorausgehendes Kind trug deshalb eine gelb reflektierende Jacke. Trotzdem erfaßte ein vorbeifahrendes Auto das letzte Kind der Gruppe und verletzte es schwer. Nach Ermittlungen der Polizei war das Fahrzeug zum Zeitpunkt des Unfalls mit mindestens 55 km/h statt der erlaubten 50 km/h unterwegs gewesen.
Die 11-jährige Schülerin mußte auf Grund der Verletzungen (u.a. ein Beckenbruch) länger stationär behandelt werden. Ihr Rechtsvertreter verlangte deshalb für sie von dem Fahrer, der Halterin und der Haftpflichtversicherung des Unfallfahrzeugs Schmerzensgeld und die Verpflichtung, für künftige unfallbedingte Schäden aufzukommen.
Das Landgericht Verden ging bei seiner Entscheidung von einem Mitverschulden des Kindes aus und minderte deshalb seine Ansprüche um 25 Prozent. Doch der, auch für Schadensersatzansprüche aus Verkehrsunfällen zuständige 14. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle, sah die Sache anders. In seiner Entscheidung vom 19. Mai 2021 gab er der Klägerin in vollem Umfang Recht.
.
Aus der Entscheidung des Gerichts
Der Fahrer des Kraftfahrzeugs habe den Unfall jedenfalls ganz überwiegend verschuldet. Nach § 3 Abs. 2a der Straßenverkehrsordnung (StVO) muss sich ein Fahrzeugführer so verhalten, dass eine Gefährdung insbesondere von Kindern, hilfsbedürftigen und älteren Menschen ausgeschlossen ist. Hier hätte der Fahrer sein Fahrverhalten sofort anpassen müssen, als er die Kinder im Straßenbereich wahrnahm. Darüber hinaus hätte er den Unfall auch verhindern können, wenn er nur die zulässige Höchstgeschwindigkeit eingehalten hätte.
Zwar hatte sich das Kind ebenfalls falsch verhalten. Entgegen § 25 Abs. 3 Satz 1 StVO hatte es beim Überqueren der Straße den vorfahrtsberechtigten Fahrzeugverkehr nicht ausreichend beachtet. Nach der Überzeugung des Senats traf es insoweit aber kein Verschulden. Nach § 828 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) können Kinder ohnehin erst ab Vollendung des zehnten Lebensjahres für Unfälle im Straßenverkehr verantwortlich sein. Hier kam hinzu, dass das nur unwesentlich ältere Kind nachvollziehbarer Weise überfordert war, weil es sich schon auf der Straße befand, als es das Fahrzeug wahrnahm, Entfernung und Geschwindigkeit dieses Fahrzeugs auch aufgrund der Dunkelheit falsch einschätzte und reflexhaft die falsche Entscheidung traf, der Gruppe hinterherzulaufen. Der Fahrer des Kraftfahrzeugs habe sich auch nicht darauf verlassen dürfen, dass sich das Kind richtig verhalten werde.
Der Senat hat deshalb nicht nur die Verpflichtung der Beklagten festgestellt, der Klägerin ihren materiellen Schaden vollständig zu ersetzen. Er hat sie auch zur Zahlung eines Schmerzensgeldes verurteilt, das mit insgesamt 35.000 € noch deutlich über den Vorstellungen der Klägerin selbst liegt. Die Klägerin hatte schwere Verletzungen und Dauerschäden, u.a. im Genitalbereich, mit möglichen Risiken auch bei späteren Schwangerschaften erlitten. Aufgrund ihres jungen Alters hatte und hat sie noch lange an den Verletzungsfolgen zu tragen. Dies war bei der Schmerzensgeldbemessung bislang nicht berücksichtigt worden.
OLG Celle, Az. 14 U 129/20
Entscheidung vom 19. Mai 2021
.
PM OLG Celle v. 31.5.2021