Der 4. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin mußte jetzt erstmals entscheiden, ob das sogenannte Stealthings (heimliches Abstreifen des Kondoms beim Geschlechtsverkehr) strafbar ist oder nicht. Das war bisher eine ungeklärte Frage des deutschen Strafrechts.
Auf einer Internetplattform hatte sich das Paar kennengelernt, welches sich dann beim Amtsgericht Tiergarten vor Gericht wiedersah. Die junge Frau, eine 20-jährige Polizistin, hatte ihren Sexpartner, einen 38-jährigen Bundespolizisten wegen eines sexuellen Übergriffs angezeigt.
Während des gemeinsamen Treffens zu sexuellen Aktivitäten hatte die junge Frau mehrfach und unmissverständlich klargemacht, dass sie auf keinen Fall Geschlechtsverkehr ohne Kondom wolle. Das sicherte der Mann auch zu und benutzte ein Präservativ. Während eines Stellungwechsels entfernte er dieses aber unbemerkt und vollendete den Geschlechtsverkehr ungeschützt. Aus diesem Grund zeigte die Frau ihn wegen „Stealthings“ an. Daraufhin verurteilte das Amtsgericht Tiergarten den Mann, wegen eines sexuellen Übergriffs, zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten auf Bewährung. Dazu kamen noch Schmerzensgeld und eine Schadenersatzzahlung von insgesamt knapp 3100 Euro.
Für Angeklagten kein Rechtsverstoß
In der Berufungsinstanz blieb das Urteil bestehen, aber das Landgericht reduzierte aber die Bewährungsstrafe auf sechs Monate. Dagegen legte der Mann beim Kammergericht Berlin Revision ein. Er sah in seinem Verhalten, anders als die Amtsrichter, keinen Rechtsverstoß und forderte deshalb einen Freispruch. Vergeblich, das Kammergericht bestätigte die Entscheidung des Amtsgerichts Tiergarten. Der Angeklagte habe „eine sexuelle Handlung gegen den erkennbaren Willen der Nebenklägerin an dieser vorgenommen.“
Willen der Partnerin ignoriert
Für die Richter am Berliner Kammergericht war entscheidend, dass der Beklagte nicht nur das Kondom heimlich entfernt hatte, sondern auch in seine Sexualpartnerin, gegen deren ausdrücklichen Willen, ejakuliert hatte. Damit war für das Gericht der Tatbestand des sexuellen Übergriffs gemäß § 177 Abs. 1 Strafgesetzbuch (StGB) erfüllt. Die Entscheidung gilt aber nur für diesen konkreten Fall. Damit bleibt offen, wie das sogenannte „Stealthing“ zu beurteilen wäre, wenn es zu keiner Ejakulation kommt.
Beschluss vom 27. Juli 2020, Az.: 4 – 58/20
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Aus der Entscheidung des Gerichts
„Das von § 177 StGB geschützte Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung beinhaltet die Freiheit der Person, über Zeitpunkt, Art, Form und Partner sexueller Betätigung nach eigenem Belieben zu entscheiden (…). Nach dem Schutzzweck der Norm kann der Rechtsgutsinhaber somit nicht nur darüber entscheiden, ob überhaupt Geschlechtsverkehr stattfinden soll, sondern auch darüber, unter welchen Voraussetzungen er mit einer sexuellen Handlung einverstanden ist.“
„(…) die Tatbestandsmäßigkeit liegt jedenfalls in einem Fall vor, in dem der Täter das Opfer nicht nur gegen dessen Willen in ungeschützter Form penetriert, sondern im weiteren Verlauf dieses ungeschützten Geschlechtsverkehrs darüber hinaus in den Körper des bzw. der Geschädigten ejakuliert. Jedenfalls dann, wenn der gegen den Opferwillen ungeschützt vorgenommene Geschlechtsverkehr – wie hier – bis zum Samenerguss in der Vagina der Geschädigten vollzogen wird, weist das Verhalten des Täters im Vergleich zum konsentierten Verkehr mit Kondom eine andere (sexualstraf-) rechtliche Qualität von strafbarkeitsbegründender Erheblichkeit auf, sodass dieser Geschlechtsverkehr als tatbestandsmäßige sexuelle Handlung im Sinne des § 177 Abs. 1 StGB anzusehen ist.“
„Hierbei ist der vom Opfer in Ausübung seiner umfassend geschützten sexuellen Autonomie geforderte Schutz durch ein Kondom nicht nur hinsichtlich der Verhinderung von Schwangerschaft und Krankheiten von Bedeutung (…). Vielmehr manifestiert sich das tatbestandliche Unrecht auch und gerade auf der Ebene des sexuellen Selbstbestimmungsrechts in einer Verletzung der sexuellen Autonomie des Opfers, weil dieses mit der Tatsache konfrontiert wird, unter – rechtserheblicher (vgl. § 184h Nr. 1 StGB) – Verletzung seiner freien sexuellen Selbstbestimmung von dem penetrierenden Sexualpartner bewusst zu einem bloßen Objekt fremdbestimmten sexuellen Tuns herabgesetzt und für dessen persönliche sexuelle Befriedigung benutzt worden zu sein. Das Unrecht des Täterverhaltens besitzt somit auch eine auf das Schutzgut des § 177 Abs. 1 StGB bezogene Demütigungs- und Instrumentalisierungsdimension; vor einer solchen sexuellen Fremdbestimmung durch die andere Person soll § 177 StGB den Rechtsgutsträger schützen.“
Abschließend merkt der Senat an, dass im konkreten Fall trotz Vorliegens der Voraussetzungen des Regelbeispiels des § 177 Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 StGB kein besonders schwerer Fall (und damit im Schuldspruch keine Vergewaltigung) ausgesprochen werden konnte, weil eine Schuldspruchänderung im Revisionsrechtszug in dieser Konstellation rechtlich nicht in Betracht kam. Im Einzelfall könnte das sog. Stealthing also künftig auch als Vergewaltigung gewertet werden.
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Quelle: PM Kammergericht Berlin vom 13.8.2020