Eine Aussage des Tübinger Oberbürgermeisters Boris Palmer sorgt für gehörigen Unmut in den Reihen der Grünen. Im Sat1-Frühstücksfernsehen hatte er gesagt: „Ich sage es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären – aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankungen.“
Für den langjährige Grünen-Bundestagsabgeordneten Hans-Christian Ströbele entwickelt sich Palmer mit dieser Aussage „zum Schrecken der Alten. Mir fehlen da eigentlich die Worte, wie man sowas auch nur denken kann, geschweige denn sagen“. Das sei „unverantwortlich“, so Ströbele gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). „Ich frage mich auch immer, wie lange ich noch lebe. Jetzt weiß ich es: ein halbes Jahr“, resümierte der Grünen-Politiker in dem Pressegespräch.
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Schon vor einigen Wochen hatte Palmer für Kritik gesorgt, als er empfahl, Menschen über 65 Jahre und „Risikogruppen“ aus dem Alltag „herauszunehmen“ und sie weitere Kontakte vermeiden zu lassen. „Jüngere, die weniger gefährdet sind, werden nach und nach kontrolliert wieder in den Produktionsprozess integriert“, so Palmers Vorschlag. Das weltweite Herunterfahren der Wirtschaft sieht Palmer als „großen Fehler“. Der grüne Vordenker befürchtet einen Armutsschock, der Millionen Kinder, so eine Schätzung der Vereinten Nationen, das Leben kosten könnte.
Grünen-Fraktionschefin widerspricht Palmer
Jetzt hat sich die Vorsitzende der Grünen-Bundestagsfraktion, Katrin Göring-Eckardt, in die Diskussion eingemischt. Der Funke-Mediengruppe sagte sie: „Unsere Verfassung ist eindeutig: Menschenwürde heißt auch, dass die Gesundheit jedes Menschen geschützt wird. Egal, wie alt wir sind“, so Göring-Eckardt.
Palmer-Aussage „ethisch unvertretbar“
Der Vorsitzende des Tübinger Stadtseniorenrates, Uwe Liebe-Harkort (79), hat seinen Oberbürgermeister für dessen jüngste Äußerungen zum Umgang mit älteren Menschen in der Corona-Krise zwar kritisiert, ihm aber auch Lernfähigkeit attestiert. Er sagte dem Redaktionsnetzwerk: „Solche Brutal-Sätze, wie Herr Palmer sie in dem Interview sagt und vor ein paar Wochen schon so ähnlich gesagt hat, sind ethisch unvertretbar“. Man könne das Leben von Menschen nicht gegen die Interessen der Wirtschaft aufrechnen. „Auf die Schiene darf man sich nicht begeben. Das führt zu nichts Gutem. Man sollte auch Risikogruppen und solche, die keine Risikogruppen sind, nicht gegeneinander stellen“, meint Liebe-Harkort.
Seniorenvertreter: Palmer hat gelernt
„Darüber haben wir mit ihm bereits gesprochen“, so der Chef der Tübinger Seniorenvertretung. In der Sache argumentiere Palmer „in dem jüngsten Interview viel differenzierter“. Er spreche nicht mehr nur von Alten, sondern von Risikogruppen. Zudem er spreche auch nicht mehr davon, dass man sie separieren solle, sondern dass sie sich mehr zurücknehmen sollten. „An der Stelle hat er gelernt. Das haben wir erreicht“, erklärt der Tübinger Seniorenvertreter.
Palmer weist Vorwürfe zurück
Er habe in dem Gespräch „nachweislich das Gegenteil gesagt“, so Palmer bei „Cicero“. Dem Magazin sagte der Grünen-Politiker, dieses Zitat sei aus dem Zusammenhang gerissen worden. Er habe zeigen wollen, welche fatalen Folgen die Verabsolutierung des Schutzes von Menschenleben habe. Im globalen Süden würde sich die Kindersterblichkeit durch die lockdown-bedingte Weltwirtschaftskrise drastisch erhöhen. Auf dieses „moralische Dilemma“ habe er hinweisen wollen.
Sein Satz sei eine Antwort auf Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) gewesen, der in einem Interview mit dem „Tagesspiegel“ gesagt hatte, der Staat könne nicht jedes Leben retten.
Auf die Frage, wie er reagieren würde, wenn seine eigene Mutter an Corona erkranken und nicht beatmet werden könnte, weil das Gerät für einen jüngeren Patienten benötigt würde, sagte Palmer: „Ich würde es akzeptieren, dass ein Arzt diese Entscheidung genauso trifft.“ Seine Mutter gehöre zu der Risikogruppe, für die die Stadt Tübingen unter anderem Taxifahrten zum ÖPNV-Tarif anbietet.
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Quelle: rb, dts